Montag, den 20.03.2023
etwa 19:00 Uhr mitteleuropäische Zeit
EU-Viertel
Brüssel
Etwas planlos laufe ich durch die langen Gänge des EU-Parlaments, unsicher hinter welcher Ecke ich den nächsten Check-out-Point entdecken werde. Im Erdgeschoss begegnen mir immer mehr Menschen in Anzügen, Blusen, Hemden, die alle in dieselbe Richtung laufen. Feierabend. Und als ich diesem Menschenstrom tatsächlich folge, sehe ich die schwarzen, schmalen Drehtüren, durch die ich mit meinem Ausweis um den Hals in den grauen Brüsseler Abend entlassen werde.
Ich stecke meine Kopfhörer in die Ohren und laufe los – vorbei an der bayrischen Botschaft, die zugegebenermaßen sehr eindrucksvoll wie ein Schloss hinter dem Parlament hervorragt. Durch den kleinen, niedlichen Park bis in die Straßen mit den Altbauten und den vielen parkenden Autos mit Kennzeichen aus Belgien bis hin zu Polen oder sogar Andorra. Dann erreiche ich die Tür zu meiner Ferienwohnung und befreie den Schlüssel aus dem Schlüsselsafe.
Bevor ich mir auch nur Gedanken über mein Abendbrot mache, gehe ich unter die Dusche und lasse mir das Wasser über den Kopf plätschern. Mein Kopf ist wahnsinnig voll. Voll von Informationen, Begegnungen, Gesehenem, Erlebten. Zu diesem Zeitpunkt kann ich eigentlich noch gar nicht greifen, was ich alles an nur einem Tag erlebt hatte und was noch in den kommenden zwei Wochen auf mich zukommen würde.
Das war also der erste Tag meines Praktikums im Europäischen Parlament. Eigentlich hätte ich letztes Jahr in der elften Klasse mein Auslandspraktikum in Sevilla mit Erasmus+ machen dürfen. Nicht einmal eine Woche vor Abflug nach Spanien machte ich einen Corona-Test. Positiv. Kein Ausland. Kein Praktikum. Dachte ich.
Wenig später ist die Europa-Gruppe unserer Schule auf mich zu gekommen und mir wurde angeboten, das Praktikum nachzuholen. Ich war unglaublich froh und dankbar, dass ich noch einmal die Chance bekam, ein Praktikum zu machen und gleichzeitig neue Erfahrungen in einem fremden Land auf mich alleingestellt sammeln zu dürfen. Gerne wollte ich zu einer NGO oder in die Politik hineinschnuppern. Mit ganz viel Glück und über Umwege bin ich dann zu einem Abgeordneten-Büro im Brüsseler EU-Parlament gekommen, in dem ich unglaublich herzlich empfangen und mir alles geduldig erklärt wurde.
Mein nächster Tag fängt wie auch in den kommenden Tagen um neun Uhr an. Und schon heute besuche ich meine erste Abendveranstaltung in einem Büro ganz in der Nähe des Parlaments. Als ich dann später am Abend in die Wohnung komme, wird mir erst wirklich klar, dass ich nun tatsächlich auf mich allein gestellt bin. Niemand da, dem ich alles erzählen kann –was in so einem Ausschuss passiert, wie meine Kollegen alle sind und was es mit diesem „Networking“ eigentlich wirklich auf sich hat. Aber immerhin muss ich mich nicht mehr um etwas zu essen kümmern, da ich bereits bei der Veranstaltung ein paar Häppchen essen konnte.
Nicht nur an diesem Tag lerne ich viele interessante Menschen kennen. Von spanischen und deutschen Lobbyisten, einem Kamerateam, libanesischen Oppositionellen, Journalisten und natürlichen vielen Abgeordneten, Mitarbeitern sowie Praktikanten aus verschiedensten Ländern und Fraktionen war alles dabei. In den kommenden Tagen werde ich weitere Ausschüsse besuchen, bei verschiedensten Meetings dabei sein, Reden von Ursula von der Leyen und Co. im Parlament hören. Außerdem durfte ich Protokolle, Wochenberichte, Mails und auch ein Papier vorbereitend für eine Resolution für die kommende Sitzung in Straßburg schreiben. Auch meine Selbstständigkeit ist durch Einkäufe in einer fremden Sprache, das Bahnen durch den unbekannten Großstadtdschungel und schließlich auch dem allein Reisen innerhalb eines halben Monats wahnsinnig gewachsen.
Obwohl ich fast immer den ganzen Tag im Büro oder im EU-Viertel unterwegs bin, bleibt am Wochenende dann doch noch Zeit für etwas Kultur. Das Sightseeing beschränkt sich wegen des sehr verregneten Brüsseler Wetters zwar nur auf die Innenstadt, einige Parks und natürlich den Manneken Pis, aber daher habe ich noch etwas Zeit für das Haus der Europäischen Geschichte. Und für alle, die einmal Brüssel besuchen sollten: kulinarisch sind die Fritten mit Schale und dazu eine exotische Soße oder ein Baguette von Jean Bon sehr empfehlenswert. Als Nachtisch dürfen natürlich die berühmten Waffeln mit dunkler, belgischer Schokolade nicht fehlen.
Samstag, den 01.04.2023
etwa 11:00 Uhr mitteleuropäische Zeit
EU-Viertel
Brüssel
Meine Sachen sind gepackt, die Wohnung geputzt und der Kühlschrank geleert. Nachdem ich meinen Mantel angezogen habe, fühle ich mich fast so wie die letzten Tage auf dem Weg zum Büro. Aber heute heißt es Abschied nehmen von meinem lieb gewonnenen Apartment mit den hohen Decken – von den Kollegen und der politischen Arbeit – von der Europa-Hauptstadt Brüssel. Ein Auslandpraktikum mit mehr Europa hätte ich mir sicher nicht vorstellen können. Etwas wehmütig gehe ich ein letztes Mal die Straße zwischen den verschnörkelten Häusern mit Regenschirm und Koffer entlang. Ich habe viel über Politik, Europa, aber vor allem auch über mich selbst lernen dürfen. Obwohl ich gleich Brüssel mit dem Zug verlassen werde: An diese 14 Tage werde ich wohl immer mit einem Seufzer und einem Lächeln auf dem Gesicht zurückdenken.
Text & Bilder: Lena Heiken