Der Hügel von Notre-Dame-de-Lorette ist blutgetränkt und voller trauriger Geschichten. Die tragischste, das ist wohl die von Paul. Er war erst vierzehn, als er starb. Er war einfach zu groß, um am Leben bleiben zu dürfen. Er kam einfach durch, einfach so. Niemand hat’s gemerkt. Bei der Musterung sagte Paul begeistert, er sei schon achtzehn. Papiere fehlten, und so glaubte man dem schlaksigen, hochgewachsenen jungen Mann und schickte ihn hierhin an die Front, an diesen Hügel im äußersten Norden Frankreichs, in die Knochenmühle, wo sich Franzosen, Engländer und Deutsche monatelang in den Schützengräben gegenüberlagen und beschossen. Als ihn die Granate traf, konnte er sich noch auf den Beinen halten. Er schaffte es sogar noch bis ins nahegelegene Lazarett. Dort brach er zusammen und verblutete. Es war zu spät.
Paul war der jüngste Tote dieses Krieges, der als „la Grande Guerre“ in die französischen Geschichtsbücher einging und den man, etwas nüchterner, in Deutschland als den „Ersten Weltkrieg“ kennt.
Paul ist nicht der Einzige, der hier sein Leben verlor. Sechshunderttausend Namen finden sich auf dem anneau de la mémoire, der Gedenktafel, die an diesem Novembertag so unwirklich friedlich in der Abendsonne schimmert. Sechshunderttausend gefallene Soldaten aus allen Teilen der Welt, denen das Massensterben in den Gräben zumindest noch den Namen ließ. Immerhin. Denn von den vielen anderen, die in dieser Blutpumpe ihr Leben ließen, weiß man gar nichts. Und noch heute finden Bauern beim Pflügen Knochen, die man nicht zuordnen kann.
Das ist jetzt genau hundert Jahre her. Hundert Jahre Waffenstillstand. Hundert Jahre Erinnern. Ein nationaler Gedenktag. In Frankreich läuten die Glocken. Emmanuel Macron war gerade da und hat einen Kranz niedergelegt. Nun stehen hier unsere Schüler vom Maxe, zusammen mit ihren französischen Austauschschülern. Von Westen zieht ein kühler Novemberwind auf, für einen Moment wird etwas stiller, und viele merken, dass die WhatsApp, die heute Morgen noch für Tränen sorgte, jetzt nicht mehr ganz so wichtig ist.
Sieben Tage sind die Achtklässler des Max-Planck-Gymnasiums mit ihren Lehrern, Frau Nowak und Herrn Heuer, auf Austauschfahrt bei unserer Partnerschule in Frankreich, dem Collège Henri-Wallon in Méricourt. Und das ist kein gewöhnlicher Austausch, sondern ein wahrhaftiges Projekt, was sich unsere französische Kollegin Rachel Foussereau zum Jahrestag des Waffenstillstandes ausgedacht hat: „Fraternité“/ „Brüderlichkeit“ heißt das Thema. Sieben Tage bewegen sich die Schüler auf den Spuren der wechselhaften Geschichte unserer Völker. Eine Woche des Entdeckens und Erinnerns. Tage, die zeigen, dass wir uns näher sind, als wir es vielleicht manchmal glauben.
So erfahren unsere Schüler aus einem alten, restaurierten Spielfilm, wie sich deutsche Bergarbeiter kurz nach dem Ende des Ersten Weltkrieges den Anordnungen ihrer Vorgesetzten einfach widersetzten und ihren französischen Kumpeln, ihren „Erbfeinden“, bei einem Grubenunglück uneigennützig zur Hilfe kamen. Sie retteten viele Menschenleben. Und das nur wenige Monate nach dem Massensterben in den Schützengräben. Manchmal ist Kohlenstaub eben stärker als Politik.
Und sie sehen in der Außenstelle des berühmten Louvre in Lens, dass sich in der bildenden Kunst der großen Kulturräume dieser Welt mehr Verbindendes als Trennendes finden lässt. Das betrifft auch Frankreich und Deutschland. Aber das ist nicht alles. Dass es dabei um viel mehr geht, zeigt ein antikes Kunstwerk in der Mitte des Saals: Nackt liegt er da, der marmorne Hermaphrodit, dieses fabelhafte Mischwesen aus Frau und Mann. Sein blinkender Popo ist von einer Seite betrachtet irgendwie ziemlich weiblich. Aber nur irgendwie. Wechselt man die Seite, so sieht man das anders. Für so manch einen pubertierenden Achtklässler mag das eine herbe Enttäuschung sein. Aber es zeigt, worum es hier eigentlich geht: Auf den Perspektivwechsel kommt es an! Manchmal muss man nur den Blickwinkel ändern, damit man versteht.
Dass man das nicht nur im Louvre lernen kann, zeigt der Deutschunterricht bei Mme Foussereau. So schreiben sich unsere Schüler zusammen mit ihren Austauschpartnern den „schönsten Freundschaftsbrief, den sie gerne erhalten würden“. Dazu schlüpfen sie in den Kopf des Anderen und denken sich etwas aus, was sie dann selbst wieder begeistert lesen möchten. Und das natürlich auf Deutsch und auf Französisch. Perspektivwechsel kann so einfach sein.
Das zeigt sich auch an den Tagen der Erinnerung: Als unsere Maxe-Schüler im Gedenken an das Kriegsende auf dem Schulhof des Collège den arbre de la fraternité, den Friedensbaum, pflanzen, zitieren sie auf Deutsch eindrucksvolle Passagen aus Erich Maria Remarques „Im Westen nichts Neues“. Ihre Partner aus Méricourt antworten mit den französischen Stellen. Das Grauen in den Schützengräben bekommt Gesichter.
Und als am 9. November ganz Frankreich im stillen Gedenken die Fahnen hebt und die Köpfe senkt, spielen unsere Schüler zusammen mit ihren französischen Freunden beide Hymnen. Dass dabei die Marseillaise etwas schmissiger rüberkommt als Deutschlandlied und Europahymne, na ja, das mag man als besonderen Tribut unserer Delmenhorster an den Gastgeber werten. Vielleicht waren die Franzosen aber dabei einfach auch nur etwas routinierter, die machen das ja schließlich öfter.
Am Ende der Woche steht ein großes Abschiedsfest mit Salat, Brot, Chips, Cola und ein bisschen Liebeskummer. Dankesreden werden gehalten, Fotos gemacht, und irgendwann, da kommt dieser Moment, wo die Tränen fließen. Und diejenigen, deren Ururgroßeltern sich hier vor hundert Jahren noch bis aufs Messer bekämpften, liegen sich nun schluchzend in den Armen. Der Abschied fällt schwer. Kaum einer will nach Delmenhorst zurück. Fremden sind sie begegnet, Freunde lassen sie zurück. Dass das wichtig ist, gerade heute in unserer Welt, das werden die meisten wohl erst später merken. Nur Paul, der hat es leider nie erfahren dürfen.
Michael Heuer
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