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Wer nicht gelegentlich auch einmal kausalwidrige Dinge zu denken vermag,
wird seine Wissenschaft nie um eine neue Idee bereichern können.

Max Planck

Stedingsehre: Schüler nehmen europäische Erinnerungskultur in den Fokus

Was bedeutet Instrumentalisierung von Geschichte? Wo begegnen wir dieser im Alltag? Was hat Geschichtsinstrumentalisierung mit der Stedingsehre in Bookholzberg zu tun? Mit diesen Fragen stieg die Klasse 11c im Rahmen der dreitägigen Projektwoche in das Thema „Möglichkeiten und Grenzen einer europäischen Erinnerungskultur“ unter dem Leitthema „Gemeinsam Richtung Zukunft“ ein. Im Mittelpunkt stand dabei die für den zweiten Projekttag angesetzte Fahrradtour zur Freilichtbühne Stedingsehre in Bookholzberg. (jle)

Tag 1 – Ein Blick ins Jahr 1234: Kreuzzug in Stedingen

Um den historischen Hintergrund der Entstehung der Stedingsehre zu verstehen, warfen die Schüler innerhalb des ersten Projekttages einen Blick zurück in das Jahr 1234. Zu der Zeit siedelten in Altenesch, unweit von Delmenhorst, Bauern, die das Land entwässern und eindeichen sollten. Diese Bauern nannten sich Stedinger. Als der Bremer Erzbischof Gerhard II. die Stedinger durch höhere Abgaben in Abhängigkeiten bringen wollte, weigerten sie sich, diese zu zahlen. In der Folge kam es immer öfter zu Konflikten zwischen Gerhard und den Stedingern. Nachdem Gerhard die Stedinger bei Papst Gregor IX. mehrfach als Ketzer angezeigt hat, wurden die Stedinger durch einen brutalen Kreuzzug bei Altenesch vernichtend geschlagen. (jdz)

Tag 2 – Mit dem Fahrrad in die Vergangenheit: Besuch der Stedingsehre

Am zweiten Projekttag machte sich die Klasse im Rahmen einer Fahrradtour auf den Weg nach Bookholzberg, um dort eine inhaltliche Brücke zwischen den Stedinger Kämpfen und der Freilichtbühne Stedingsehre als ehemalige NS-Kultstätte zu schlagen. Hierfür trafen sich die Schüler im Informations- und Dokumentationszentrum Stedingsehre mit Gästeführer und Mitglied des Fördervereins „Informationszentrum Freilichtbühne Bookholzberg“ Peter Hedemann. Nach einer kurzen Vorstellung der Aufgaben und Ziele des Fördervereins erhielt die Klasse durch einen kurzen Filmbeitrag einen inhaltlichen Input zur Entstehung der Stedingsehre als nationalsozialistische Kultstätte: Aus Anlass des 700. Jahrestages der Stedinger Kämpfe verfasste der niederdeutsche Dichter August Hinrichs 1934 das Theaterstück „De Stedinge“. Kurze Zeit später beschloss der damalige NS-Gauleiter Carl Röver eine Freilichtbühne mit Kulissendorf zu errichten, um dort Hinrichs Stück aufführen zu lassen.

Als Standort für die Errichtung wurde der Bookholzberg gewählt, weil dieser einen weiten Blick auf den tatsächlichen Ort der Kämpfe in Altenesch ermöglichte. Nach Einweihung der Anlage entwickelte sich das Volksschauspiel schnell zu einem Massenspektakel. Daneben beherbergte die Stätte bis 1945 eine NS-Führungsakademie und eine “Gebietsführerschule” der
NSDAP-Nachwuchsorganisation „Hitlerjugend“. „Der deutsche Bauer wurde in dem Theaterstück idealisiert dargestellt, das passte irgendwann nicht mehr in die NS-Ideologie“, erklärte Hedemann die Beendigung der Aufführungen auf der Stedingsehre im Jahr 1937.

Nach diesem inhaltlichen Input führte Hedemann die Schüler über das Gelände der Freilichtbühne und des Kulissendorfes. Dabei profitierten die Schüler von dem exzellenten Fachwissen Hedemanns, wodurch die Geschichte hinter der Stedingsehre greifbarer wurde. Gegen Ende wurde sich gemeinsam über die Bedeutung der Stedingsehre für die heutige Erinnerungskultur und den Stellenwert solcher Denkmäler als außerschulische Lernorte ausgetauscht. Der Tenor war hierbei eindeutig:

Die Stedingsehre dient heute nicht nur als Denkmal, sondern insbesondere auch als ein Aufruf zur Reflexion und zum Lernen aus der Geschichte. Orte wie diese sind als außerschulische Lernorte eine gute Ergänzung zu den bereits in Jahrgang 10 stattfindenden KZ-Gedenkstättenfahrten, weil sie vor allem die Propagandamittel der Nationalsozialisten vor Augen führen. (jle)

Tag 3 – Dialog über Kirche und Gesellschaft: Pfarrer stellt sich Schülerfragen

Der dritte und somit letzte Projekttag diente dazu, sich mit der gesellschaftlichen Verantwortung der Kirche in einer sich verändernden Welt von heute und morgen tiefer auseinanderzusetzen. Leitender Pfarrer der St.-Marien-Kirche Guido Wachtel, der als Gastreferent in die Klasse eingeladen wurde, stellte sich dabei den Fragen der Schülerschaft. Die Fragen, die von den Schülern gestellt worden sind, umfassten dabei verschiedene Themengebiete: Berufswunsch Pastor, Rolle der Kirche in der Politik und in gesellschaftlichen Themen, Missbrauchsskandale in der katholischen Kirche, Umgang mit Bedürftigen, Kirche als interkulturelle Anlaufstelle, Resonanz kirchlicher Angebote, Rechtsextremismus und vieles mehr. Ein herzlicher Dank geht hiermit an Herrn Wachtel, der sich den zum Teil auch sehr kritischen Fragen offen und ehrlich stellte und fundierte Antworten aus geistlicher Sicht lieferte. (jle)

Gesellschaftlicher Umgang mit der Stedingsehre

Ein kleiner Teil der Klasse setzte sich parallel zum Gespräch mit Pfarrer Wachtel vertiefend mit dem Umgang der Bevölkerung mit der Stedingsehre nach ihrer Nutzung als NS-Kultstätte auseinander. Der folgende Essay beschreibt die Ergebnisse, zu denen die Gruppe gekommen ist:

Eine Aufarbeitung der dunklen Geschichte der Stedingsehre fand nach Kriegsende nicht statt. In den 1960ern und 1970ern fanden weitere Theateraufführungen und Musikfeste auf dem Gelände statt. Erst ab 1992 begann langsam die Bevölkerung sich mit der propagandistischen Nutzung des Ortes auseinanderzusetzen. In diesem Jahr wurde das Gelände unter Denkmalschutz gestellt. Noch 1992 gründete sich eine Bürgerinitiative, die sich gegen bauliche Veränderungen der Stedingsehre einsetzte. Ab 2005 arbeitete der „Arbeitskreis Stedingsehre“ der Volkshochschule an einem Dokumentationszentrum, indem Material gesammelt, Führungen veranstaltet und Veröffentlichungen herausgegeben werden sollten. Zur Unterstützung wurde 2006 der „Förderverein Informationszentrum Freilichtbühne Bookholzberg“ gegründet. Dieser arbeitet zusammen mit politischen Vertretern der Region und Wissenschaftlern sowie Museumsexperten der Stiftung Niedersächsischer Gedenkstätten an der Errichtung eines Zentrums in den Gebäuden der Freilichtbühne. Die Eröffnung des „Informations- und Dokumentationszentrums“ erfolgte dann 2022. Gelegen in einem Haus am Rande des Spieldorfs, bietet es eine Ausstellung über die Stedinger, Geschehnisse in der NS-Zeit und die Entwicklung seit 1954. Bestandteile der Ausstellung sind unter anderem Quellen, Darstellungen, Bilder und Modelle. Die Vermittlung wendet sich insbesondere an Schülergruppen; Studierende und Historiker erhalten einen Raum für Forschungen.

Projektwoche im Rückblick: Abschluss mit Snack-Buffet und Gesprächsrunde
Den Abschluss der Projekttage bildete ein von dem restlichen sich noch in der Klassenkasse befindlichen Geld finanziertes Snack-Buffet. In gemütlicher Runde wurde sich dabei über das Gespräch mit Pfarrer Wachtel ausgetauscht und die gesamte Projektwoche reflektierend betrachtet. (jle)

(mni)

 

Text: Jaroslav Lepekhin (jle), Julian Dzhumelya (jdz), Merle Niemann (mni) / Fotos: Bruno Fischer

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